Am 3. Mai 2012 gab ich mein Examenskonzert an der Musikhochschule, am Prinz Claus Conservatorium in Groningen (NL).

Ausgerechnet heute, genau 9 Jahre später, fiel mir das Programmheft, das ich damals für das Konzert gestaltet habe, in die Hände. Und ich bin sehr überrascht darüber, was ich dort geschrieben habe. Dieses Programm, die vier Stücke, die ich ausgesucht, einstudiert und aufgeführt habe, sagen so viel über mich und meinen musikalischen Werdegang aus, dass ich hier noch einmal darüber schreiben möchte. Um noch einmal in dem Gefühl zu schwelgen, das ich nach diesem Konzert hatte. Und um dem geneigten Leser, der geneigten Leserin die Möglichkeit zu geben, mich besser kennen zu lernen.

Im Begleitheft zu meinem Konzert stelle ich mich auch erst einmal vor:

Warum mache ich das eigentlich? Dieser Frage bin ich im Programmheft auf den Grund gegangen. Warum mache ich das eigentlich? Dieser Frage bin ich im Programmheft auf den Grund gegangen.

“Ich spiele Schlagzeug. Das war nicht immer so. Erst war es die Geige, dann lernte ich auch Klavier spielen, ich habe Schulmusik studiert und im Nebenfach Philosophie. Und jetzt spiele ich Schlagzeug. Ein Abschlusskonzert am Konservatorium ist eine gute Gelegenheit, um auf seinen bisherigen, persönlichen “Kunstweg” zurückzuschauen. Es ist auch eine gute Gelegenheit, um nach vorne zu blicken, Pläne zu schmieden, wie es denn nun weiter gehen soll auf dem “Kunstweg”.(…) Man sollte vor allem wissen, warum man diesen Weg eigentlich nimmt. Man muss sein Ziel kennen. Ich habe Stücke ausgesucht, die Denkanstöße zur Bestimmung des Ziels geben können. Es geht um die Frage, warum wir überhaupt Musik machen wollen und was Musik leisten kann.”

Vinko Globokar: ?Corporel – für einen Schlagzeuger und seinen Körper

Daran, dass eine Frau dieses Stück aufführe könnte, hat Vinko Globokar vermutlich nicht gedacht. Die Anweisung zur Aufführung dieses Stückes lautet:

“In Leinenhose bekleidet, Oberkörper frei, barfuß.”

Ich habe meinen Oberkörper bekleidet und das Stück trotzdem -oder gerade deswegen- gespielt. Weil ich als einzige Frau in der Schlagzeugklasse eine besondere Rolle hatte. Und ich fand das Stück von Globokar besonders geeignet, um über diese Rolle nachzudenken. Im Programmheft schrieb ich dazu:

“Auf den ersten Blick sieht es aus, als habe Globokars Komposition mit (instrumentalem) Musizieren im herkömmlichen Sinne wenig zu tun. Aber das Gegenteil ist der Fall: Globokar zeigt in seinem Stück das Wesentliche des Musizierens. Der Musiker, die Musikerin selbst, mit ihrem Körper, ihren Bewegungen, ihrer eigenen Biografie und Befindlichkeit, ist das Instrument. Sie ist Subjekt und Objekt zugleich; sie bedient sich ihrer ihr eigenen Möglichkeiten, um die Komposition zum Klingen zu bringen. Bei ?Corporel geht es um das Sich-in-Beziehung-setzen; das “Ich” (die Spielerin) setzt sich in dem vorgegebenen Rahmen (der Komposition) zu ihrer Umwelt (mit Zeit und Raum, ihrer eigenen Biografie und Traditionen, ihren Emotionen, Phantasien und Gedanken) in Beziehung. Bei Globokar geschieht dies ohne Instrumente, also ohne körperfremde Objekte – der Komponist zeigt uns in ?Corporel gewissermaßen einen Monolog der Musikerin, die sich ihrer Doppelfunktion als Schaffende und Interpretin bewusst wird (…).”

Das Plakat für die Konzertankündiging zeigt die erste Szene von Vinko Globokars Corporel. So begann mein Konzert: Ich saß in dieser Pose in einem Lichtspot im dunklen Konzertsaal.

Man studiert fremde Systeme, um das eigene System zu finden.— Novalis

Christos Hatzis: Fertility Rites für Marimbaphon und Tape

Christos Hatzis sagt über seine Komposition Fertility Rites: “Der Titel leitet sich von den Stimmspielen, den Throat Songs, der Inuit ab. In unseren Interviews (…) lernte ich, dass Throat Songs ein Fruchtbarkeitsritual sind, ein schamanischer Balzruf, den Frauen aufführen, wenn die Männer auf der Jagd sind. (…)Im übertragenden Sinn repräsentieren die Tape-Klänge die Gedanken bzw. Instinkte des Spielers, während das live gespielte Instrument auf der Bühne seine Stimme ist”

Im Programmheft interpretiere ich dieses Stück als “Symbol für die Kunst des Musizierens: der menschliche Atem, der Antrieb, wird beim Musizieren auf ein Instrument übertragen. Das Instrument, der fremde Klangkörper mit seinen Klangeigenschaften, wird dadurch zur Stimme der Musikerin.”

Klingt echt gut, was ich damals geschrieben habe! Und ja: genauso ist es! Aber in der Zwischenzeit, in den 9 Jahren, die seit dem Examen vergangen sind, habe ich noch so viel dazu gelernt. Wie genau das denn funktionieren kann. Das Übertragen meiner Stimme auf das Instrument. Als ich das Stück damals spielte, habe ich garantiert nicht frei geatmet. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, weil ich auf meinen Atem beim Spielen nicht geachtet habe. Aber da man als Musikerin ja nie “fertig” ist, ein abgeschlossenes Examen nicht bedeutet, dass man nun offiziell für immer eine gute Musikerin ist, habe ich in den folgenden Jahren immer weiter gearbeitet, mehr geübt und mich weiterentwickelt. Und dabei irgendwann festgestellt: Ich atme nie richtig frei. Ich ziehe beim Spielen den Bauch ein und atme flach. Als ich das geändert habe, hat sich mein Klang unglaublich verbessert, ich habe keine Schmerzen mehr im linken Arm und bin nach dem Üben nicht erschöpft. So einfach kann’s sein. Der Weg dahin war aber mit einer langen Suche, viel Ausprobieren und Üben verbunden. Welche Methode mir geholfen hat und wie meine Überoutine heute aussieht, werde ich in einem nächsten Artikel beschreiben.

Jetzt aber erstmal tief durchatmen und weiter zum dritten Programmpunkt:

MAREN VOERMANS: A PRIOR I
FÜR MULTIPERCUSSION UND LOOP-APPARAT

Was mich am Schlagzeug immer so fasziniert hat, ist der große Abwechslungsreichtum an Klängen, den die vielen Instrumente bieten. Das Entdecken und Neues ausprobieren. Und komplizierte Rhythmen. Den Denksport, den man leisten darf, wenn man mit der linken Hand 8 Schläge verteilt über mehrer Instrumente spielt und in der rechten Hand in derselben Zeit 10 Schläge.

Für mein Abschlusskonzert dachte ich mir: “Wenn schon, denn schon. Wenn ich mit meiner Stückauswahl etwas erzählen will, wenn ich Stücke spielen will, die etwas über mich aussagen, dann schreibe ich auch ein Stück selbst”. Und weil ich zu der Zeit so angetan war von der Kombination von Live-Musik und elektronischen Elementen und mir gerade ein neues Spielzeug gekauft hatte, habe ich mein erstes Stück für Multipercussion und Loop-Apparat komponiert.

 

„…denn alles entspingt aus dem Pulsschlag“ – Yehudi Menuhin

Jetzt wäre es doch wirklich schön, das hier nicht nur zu lesen, sondern auch zu hören. Dummerweise gibt es von meinem Konzert keine Aufnahme. Ich werde A prior I wohl noch einmal aufnehmen müssen, damit es hier auf meinem Blog zu hören ist. Und nachdem ich gelesen habe, was ich mir bei der Komposition alles so gedacht habe, werde ich das mit dem größten Vergnügen tun…

Steve Reich: Proverb für Vokalensemble, 2 elektronische Orgeln und 2 Vibraphone

Dieses Stück muss man einfach hören! Da es keine Aufnahme von unserer Version damals gibt, verlinke ich hier eine Aufnahme von Collin Currie und seinem Ensemble.

Zu Proverb schrieb ich im Programmheft:

“Reich spielt in seiner Komposition mit Andeutungen – er zitiert Kompositionstechniken des späten Mittelalters, kombiniert diese mit modernen Instrumenten und bedient sich einer Äußerung Wittgensteins. Durch das Zusammenfügen, Verfremden und Umdeuten stellt Reich neue Zusammenhänge dar; indem er auf Vergangenes zurückblickt, schafft er Neues. Dadurch ergibt sich für den Zuhörer viel Raum für Interpretation. Und hiermit zeigt Steve Reich eindrucksvoll, wie wichtig es ist, Traditionen zu kennen, wie wesentlich ein breites Spektrum an (musikalischem) Wissen und Erfahrung ist: Wir brauchen einen kulturellen Anspielungsraum, um Neues zu verstehen und in einen Zusammenhang bringen zu können. Wir müssen uns unserer und anderer Tradition bewusst sein, um uns zurechtzufinden. Ein Gedanke kann noch so klein sein, aber wir müssen ihn verstehen und annehmen können. Aber dann hat er die Kraft, ein ganzes Leben zu füllen.”

Wenn ich das lese, habe ich sofort die Musik im Ohr und bekomme Gänsehaut.

Vielleicht, weil beim Hören meine “Tradition” mitschwingt – ich verbinde mit diesem Stück das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Mit dem Abschlusskonzert, das ich mit Mark an meiner Seite geplant, geprobt und aufgeführt habe, war der Grundstein für Schlagwerk Voermans gelegt. Wir wollten mehr davon: Eigene Programme gestalten und Stücke aufführen, zu denen wir eine besondere Beziehung haben.

How small a thought it takes to fill a whole life— Ludwig Wittgenstein

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