Wie sich das Kommunikationsquadrat nach Friedemann Schulz von Thun auf das Musikhören und -machen übertragen lässt und wieso Musiker*innen darin den Schlüssel für selbstbewusstes Auftreten finden.

Überlegungen zur Haltung beim Hören an Beispielen aus unserer Küche und unserem Musikzimmer.

Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun hat das bekannte 4-Seiten-Modell, oder auch Kommunikationsquadrat, entwickelt, das besagt, dass jede Aussage vier Botschaften enthält. Dabei sendet der Sprecher eine Aussage mit vier Schnäbeln und der Empfänger hört die Aussage mit vier Ohren. Die vier Seiten einer Nachricht sind laut von Thun:

  • 1. Die Sachseite = der Informationsgehalt der Nachricht. Daten und Fakten, die aus der Aussage hervorgehen.
  • 2. Die Selbstoffenbarungsseite = was der Sprecher von sich selbst zu erkennen gibt.
  • 3. Die Beziehungsseite = wie der Sprecher zum Empfänger steht.
  • 4. Die Appellseite = was der Sender beim Empfänger erreichen will.

Der Kaffee ist alle

Hierzu ein kleines Beispiel aus unserer Küche. Wir stellen uns folgende Szene vor:
Ich greife zur Kaffeedose, schaue hinein und sage zu Mark: „Der Kaffee ist alle“.

Der Informationsgehalt (1. Seite) dieser Nachricht ist: Es gibt keinen Kaffee mehr im Hause Voermans. Die Kaffeedose ist leer.

Was ich hier von mir selbst offenbare (2. Seite) ist vielleicht: „Ich bin müde, ich brauche jetzt dringend eine Dosis Koffein.“ Oder auch: „Ich hatte mich so auf ein gemütliches Kaffeetrinken mit dir gefreut, jetzt bin enttäuscht, dass es nicht stattfinden kann.“

Wie der Satz auf der Beziehungsebene (3. Seite) gesendet wird, hängt stark damit zusammen, wie ich ihn ausspreche, welche Emotionen mitschwingen. Klingt meine Stimme zum Beispiel angespannt, sende ich damit eine Wut darüber, dass niemand neuen Kaffee gekauft hat.

Den Appell (4. Seite) den ich mit der Art und Weise, wie ich den Satz „Der Kaffee ist alle“ sende, könnte sein: „Unternimm etwas, damit ich an meinen Kaffee komme! Geh sofort einkaufen!“.
Oder, wenn ich den Satz bestürzt sage: „Verzeih mir, dass ich vergessen habe, Kaffee zu kaufen!“

Wie diese Szene in unserer Küche nun weitergeht, hängt davon ab, auf welchem Ohr Mark meine Aussage hört. Hört er vor allem einen großen Vorwurf auf der Beziehungsseite, könnte ein Streit über die Verantwortlichkeiten beim Kaffeekauf ausbrechen. Hört er aus meiner Selbstoffenbarung heraus, dass ich wirklich müde bin, bereitet er mir vielleicht einen aufputschenden Mate-Tee zu oder empfiehlt mir einen Mittagsschlaf. Aus dem Kommunikationsmodell nach Friedmann Schulz von Thun lässt sich also sehr gut erkennen, was für ein komplexes Gebiet die zwischenmenschliche Kommunikation ist.

So weit, so kommunikationspsychologisch bekannt.

Aber was passiert nun, wenn wir die Küche verlassen und ins Musikzimmer gehen? Ich möchte einen Versuch wagen, das Kommunikationsquadrat auf das Musikmachen (=Senden) und Musikhören (=Empfangen) zu übertragen.

Das Kommunikationsquadrat für Musiker*innen

Der Sachinhalt (1. Seite), die Noten und Klänge, die wir hören, lässt sich im Wesentlichen mit Worten beschreiben. Der Sachinhalt eines Musikstückes setzt sich aus den musikalischen Parametern Melodik, Rhythmik, Harmonik, Dynamik, Artikulation, Form und Instrumentation zusammen (bei bestimmten Musikstücken kommen noch weitere Gesichtspunkte hinzu, etwa bei sprachgebundener oder programmatischer Musik).

Der SAchinhalt des Boleros

Ein Stück, das vermutlich fast jede*r kennt, ist Ravels Bolero. Für unsere Adaption dieses bekannten Orchesterwerkes haben wir natürlich zunächst die Sachseite analysiert: Die Musik ist auf einem Ostinato-Rhythmus im 3/4 -Takt aufgebaut, der während des gesamten Stückes von einer, später von zwei kleinen Trommeln gespielt wird. Darüber werden zwei 16-taktige Melodien. Die erste Melodie enthält  ausschließlich die Töne der C-Dur-Tonleiter, während die zweite Melodie einen erweiterten Tonvorrat (c, des, d, es, e, f, g, as, a, b) verwendet. Hierbei kommen jedoch keine chromatischen, sondern ausschließlich diatonische Tonfortschreitungen vor.
Spannung erhält die Komposition durch mit jeder neuen Variation wechselnde Instrumentierung und ein ständiges Crescendo. (…)

Beim Üben und Vorbereiten von Konzerten wird dieser 1. Seite erfahrungsgemäß eine besonders große -wenn nicht sogar die ausschließliche- Aufmerksamkeit geschenkt. Sehr häufig wird bei der Einstudierung eines Musikstückes -zumindest vordergründig- nur der Sachinhalt berücksichtigt; so haben es Mark und ich in unserer eigenen Ausbildung erlebt und sehen es heute immer noch bei den allermeisten Musiker*innen, die zu uns ins Coaching kommen.
Natürlich müssen die Noten korrekt eingeübt werden, muss jeder Ton, jeder Rhythmus, müssen Dynamik und Tempo stimmen.

Allerdings kommen die anderen Seiten der „Nachricht“ damit oft viel zu kurz.

Dabei finden wir auf den anderen Seiten des Kommunikationsquadrats den Schlüssel für die Kraft, die Musik haben kann, für ihren Kern:

Denn für die Empfängerseite, also für Musikerhörer*innen, ist die Sachseite, die Zusammensetzung der einzelnen musikalischen Parameter, nicht der einzige, meistens nicht der wichtigste Grund für einen Konzertbesuch. Das Publikum erkennt vielleicht die Form des Musikstückes, nimmt wahr, wie deutlich die Ausführenden phrasieren oder wie differenziert die Dynamik ausgeführt wird. Aber der Grund, warum die meisten Menschen ins Konzert gehen, oder warum sie zuhause ein Album anhören, liegt in den anderen drei Seiten des Kommunikationsmodells begründet:

Wir hören Musik, weil wir uns von ihr berühren lassen wollen, weil sie in uns Emotionen hervorruft. Menschen hören Musik also sehr stark auf dem Selbstoffenbarungsohr (Was bedeutet mir die Musik? Kann ich dazu gut tanzen/weinen/träumen? Welche Emotionen löst sie bei mir aus, was erfahre ich über die Botschaft des*der Künstler*in, was erfahre ich über mich selbst?), auf dem Beziehungsohr (hier denke ich vor allem an Live-Konzerte: wenn die Musizierenden, das Musikstück, der Raum und die Zuhörenden miteinander in Resonanz gehen – wenn einer dieser magischen Flow-Momente entstehen, die es nur in Live-Konzerten gibt, die mit Worten so schwer zu beschreiben sind) und dem Appell-Ohr (Wozu ruft die Musik mich auf?). Musik kann bewegen – und zwar nicht nur in dem Sinn, dass schwungvolle Musik zum Tanzen oder Mitklatschen hinreißt. Wenn ich Musik auf dem Appell-Ohr höre, will ich den*die Musiker*in verstehen, seine*ihre Botschaft hören und bin bereit, damit in Resonanz zu gehen).

 

Für uns Musiker*innen bedeutet das: Wir sollten diese drei Seiten auf keinen Fall vergessen! Hier kommen meine Idee dazu, wie wir die übrigen drei Seiten in unser Spiel mit einbeziehen können:

Wie viel Energie braucht Eifersucht?

Durch die Selbstoffenbarungsseite (2. Seite) können wir uns dem Publikum mitteilen, unsere Interpretation der Noten deutlich machen. Mit der Selbstoffenbarungsseite werden die Emotionen transportiert, die wir beim Spielen der Musik empfinden. Wir öffnen uns dem Publikum, zeigen, wie wir das Stück verstehen. Dazu müssen wir uns bei der Einstudierung genau diese Frage stellen: Was möchte ich transportieren?
Ein Beispiel: Der „Tango Jalousie“ von Jacob Gade aus unserem Konzertprogramm „Drumming out of the box“ ist zu Beginn mit energico überschrieben. Mark und ich fragen uns beim Einstudieren: Was ist das für eine Energie? Es geht hier -darauf verweist der Titel des Stückes- um Eifersucht. Wie klingt eine eifersüchtige Energie? Wir finden einen Ausdruck für diese Energie, indem wir uns darüber unterhalten, Bilder finden, die für uns passend sind, und dann mit der musikalischen Phrase experimentieren. Wir probieren verschiedene energicos aus, spielen die notierten Akzente mal besonders übertrieben, mal eher dezent, suchen das passende Maß energico und legen und auf das unserer Meinung eindrucksvollste fest.

Den Flow einladen

Wenn es Musiker*innen gelingt, die Beziehungsseite (3.Seite) zu öffnen, kann ein beflügelnder Flow-Moment entstehen: ein Moment, in dem sie wie in einem Rausch eins werden mit der Musik, in dem alles wie von selbst läuft. Per Definition lässt sich dieser „Es-läuft-wie-von-selbst“-Zustand nicht erzwingen, aber wir können in der Vorbereitung einiges unternehmen, um ihn einzuladen. Die „Beziehungen“, die wir beim Musizieren eingehen, sind vielfältig: Wir sollten eine gute Beziehung zu unserem Körper haben, der unser Instrument ist (bei Sänger*innen), oder das Instrument führt (bei Instrumentalis*innen). Wir sollten eine Beziehung zu der Akustik, zu dem Raum, in dem wir spielen, aufbauen. Wenn wir mit anderen zusammen musizieren, müssen wir uns auf den Klang der Mitmusiker*innen einlassen. Wenn Publikum da ist, haben wir automatisch eine Beziehung zu den Menschen im Raum. Je mehr sich Musiker*innen all dieser Beziehungen bewusst sind und sie in ihre Übe-Routine mit einbeziehen (durch Körper- und Wahrnhemungsübungen, durch mentale Übestrategien und feste Refexionrunden bei jedem Üben), desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf der Bühne in den beglückenden Flow-Zustand kommen.

Hör mir zu!

Über die Appellseite (4. Seite) sendet der*die Musiker*in Handlungsaufforderungen an das Publikum.
Die übergeordnete Handlungsaufforderung an den*die Zuhörer*in ist: „Hör mir zu! Ich habe dir etwas zu sagen!“ Wenn ich diese Seite beim Einstudieren eines Musikstückes ganz bewusst einbeziehe, denke ich das Publikum, den Empfänger meiner Nachricht, von Anfang an mit. Und hier liegt der Schlüssel für das selbstbewusste Auftreten von Musiker*innen: Wenn ich mich als Senderin einer Botschaft verstehe, wenn ich meine Idee von dem Stück, das ich spiele, „erklären“ will, dann verstehe ich mich als aktiven Teil des Systems „Musikerin – Publikum“. Die Angst, einem Publikum ausgeliefert, von seinen Bewertungen abhängig zu sein, ist unbegründet, wenn ich nicht mich als Person, sondern meine Nachricht, meine Interpretation eines Musikstückes, präsentiere. Zur Verdeutlichung dieses Perspektivwechsels verwende ich gerne die Kuchenmetapher.

(Durch die Appellseite wird übrigens auch deutlich, welch große Rolle die musikalische Bildung unseres Publikums spielt. Ich kann mich ungemein anstrengen, um die Botschaft meiner Musik zu vermitteln – wenn aber die Hörer*innen nicht aufnahmefähig sind, das Gehörte nicht verarbeiten oder gar ganz andere Erwartungen an mein Konzert haben, wird meine Botschaft nicht bei ihnen ankommen können.)

Der angenehme Nebeneffekt

Wenn wir ein Stück einstudieren, indem wir alle vier Seiten des Kommuniaktionsquadrats beachten, hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass Lampenfieber viel weniger Chancen hat, uns den Auftritt zu vermasseln. Der Perspektivenwechsel, den wir vollziehen, wenn wir uns als aktiv gestaltenden Teil, aus Regisseur*in unseres Auftritts verstehen, lässt das Gefühl des Ausgeliefertseins, das bei Lampenfieber oft beschrieben wird, verschwinden.

Außerdem lenken wir durch diese Art des Übens bewusst unsere Aufmerksamkeit. Wir sind uns bewusst, welche Gedanken und Gefühle wir zu einer musikalischen Stelle ausdrücken – und damit ist unser Gehirn beschäftigt. Es ist dann weniger anfällig, sich in negative Gedankenschleifen zu begeben und erkennt in der besonderen Auftrittsenergie keine Gefahr.

Und ein weitere angenehmer Effekt tritt ein, wenn wir mit vier offenen Ohren musizieren: dieses zielgerichtete Üben ist viel effektiver, führt schnell zu guten Ergebnissen. So bleibt viel mehr Zeit für gemütliches Kaffeetrinken.

Möge die Kaffeedose immer reichlich gefüllt sein!