Musik ist Mitteilung. Eine Künstlerin auf der Konzertbühne überbringt eine Botschaft, ihre Interpretation eines Musikstückes, an das Publikum.
Dieser Aussage stimmen die meisten Musiker*innen, die zu mir ins Coaching kommen, zu. Aber nur solange sie unter „Konzert“ nicht das anstehende Probespiel oder das Konzertexamen verstehen. Denn das ist ja eine Prüfung. Im Publikum sitzt eine Jury, manchmal ein ganzes Orchester, das die Kandidatin beurteilt. Da gilt es -so denken viele Musiker*innen- möglichst so zu spielen, dass der Geschmack der Jurymitglieder, der Professor*innen oder Orchestermitglieder getroffen wird.
Manche Musiker*innen, die sich auf ein Probespiel vorbereiten, nehmen sogar Unterricht bei einem Mitglied des Orchesters, in dem sie sich um eine Stelle bewerben, weil sie sich größere Chancen ausrechnen, wenn sie beim Probespiel so spielen, wie es dem Mentor aus dem Orchester gefällt.
Beim Probespiel oder einem Prüfungskonzert fühlen sich viele Musiker nicht als Künstler, sondern als Kandidaten. Als Prüflinge, die um die Gunst der Jury buhlen. In dieser Vorstellung sind die Musiker*innen nicht der aktive, führende Teil des Systems „Künstler – Hörer“, sondern der passive, der vom Hörer abhängige. Dass diese Vorstellung nicht angenehm ist und weniger zu Höchstleistungen als zu großen Zweifeln und Ängsten führt, liegt auf der Hand.
Und auch die Strategie, sich die Meinung einzelner Jurymitglieder im Vorfeld einzuholen, stößt sehr schnell an Grenzen, da man sich mit dieser Vorgehensweise allerhöchstens das Wohlwollen einer Person, der man nach der Nase spielt, sichert. Die Jury besteht allerdings immer aus mehreren Personen und damit aus mehreren Meinungen und Geschmäckern. Deshalb braucht es bei der Vorbereitung eines Probespiels einen Perspektivwechsel. Und hier kommt der Kuchen ins Spiel:
Appeltaart
Mein Lieblingskuchen: Die holländische Appeltaart nach dem Rezept von Marks Oma. Klingt, äh, schmeckt, fantastisch.
Das Kuchenbeispiel brachte Mentaltrainerin Petra Keßler in einem Workshop, den ich vor einigen Jahren besuchte. Und die Forderung „Spiele wie dein Lieblingskuchen“ ist seither meine Lieblingsmetapher für den Perspektivwechsel, den Musiker*innen vornehmen sollten, wenn sie sich nicht länger als zu bewertendes „Objekt“ des Publikums sehen möchten.
Marmorkuchen? Schwarzwälderkirsch? Bienenstich?
Was ist dein Lieblingskuchen? Stell dir vor, du „verkaufst“ durch dein Spiel dem Publikum deinen Lieblingskuchen. Du stehst für die perfekte Donauwelle, die unwiderstehliche Kombination von lockerem Vanille- und Schokorührteig mit fruchtig-sauren Kirschen, in der Mitte eine köstliche Puddingcreme, abgerundet durch eine knackige Schokoglasur. Deiner Interpretation dieses Rezeptes kann kein Donauwellenliebhaber widerstehen.
Nun hat aber jeder Mensch, dazu zählten auch Jury-Mitglieder, seinen eigenen Geschmack. Und nicht alle mögen Donauwelle. Der Apfelkuchen-Fan greift nie zu Schokogebäck, wer am liebsten Bienenstich mag, findet Frankfurter Kranz übertrieben. Einige Leute schwören auf Baumkuchen, wieder andere bevorzugen Obstboden. Kurz: Geschmäcker sind verschieden.
Wenn du nun zufällig weißt, dass dein Publikum zu je einem Drittel aus Erbeertortenliebhabern, Zitronenkuchen und Sachertortenesserinnen besteht, kannst du versuchen, deine Liebe für Donauwelle zu unterdrücken und einen Kompromiss aus Erdbeertorte, Zitronenkuchen und Sachertorte zu verkaufen. So richtig überzeugen wirst du mit dieser Backmischung aber wahrscheinlich niemanden. Dem Erdbeerfan wird deine Kuchenkombi zu zitronig sein, der Sachertortenesser wird statt Mirabelle keine Erdbeere akzeptieren und wenn Schokolade im Spiel ist, steigt der Zitronenkuchengenießer aus.
Du kannst es also nicht allen recht machen?
Doch! Indem du deinen eigenen Lieblingskuchen so überzeugend präsentierst, dass alle Lust darauf bekommen.
Selbst wenn eine Jury vor dir sitzt, die geschlossen der Meinung ist, Sachertorte sei der einzig gute Kuchen, kannst du deinen holländischen Apfelkuchen so überzeugend präsentieren, dass alle Prüfer*innen finden, so ein fein-fruchtiger Apfelkuchen sei eine bereichernde Ergänzung zum Wiener Traditionsgebäck. Je weniger du versuchst, deinen Geschmack zu verstellen, desto überzeugender kannst du auftreten. Du stellst deinen persönlichen Lieblingskuchen vor, du bietest ihn den Zuhörer*innen an. Und wenn diese nicht zugreifen, weil sie nunmal doch nur dicke Sahnetorten mögen, dann kannst du es ihnen auch nicht verübeln. Dann passt ihr wohl einfach nicht zusammen. Stell dir vor, du müsstest jeden Tag mit den Kolleg*innen Sahnetorte essen, obwohl dir eigentlich nur Obstkuchen schmeckt – es würde zu Bauchschmerzen führen.
Ich mag dieses Beispiel fast so gerne wie Apfelkuchen, da es verdeutlicht, dass Musiker*innen nicht das „Objekt“ der Hörer*innen sind. Sie sind Überbringer einer Botschaft: Probiert dieses vorzügliche Backwerk. Ich liebe diesen Kuchen und gebe euch gerne ein Stück davon ab!
Und wenn wir unseren Lieblingskuchen beim Probespiel überzeugend präsentiert haben und trotzdem nicht in die nächste Runde kommen, wissen wir, dass nicht wir als Menschen, sondern nur unser Angebot, unser persönlicher Geschmack zurückgewiesen wurde. Darüber kommt man schnell hinweg – am besten bei einem großen Stück Kuchen.
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